Kann vielleicht die Musik Frieden schaffen?

von Markus Brogle

Wer mich kennt, weiß, dass ich von jüngster Kindheit an mit Musik aufgewachsen bin. Mein tiefer Glaubenshintergrund stabilisierte sich erst viel später als felsenfester Untergrund.

So wird dies hier ein zutiefst biografischer Artikel. Lese ihn wer mag – er ist zunächst Heilung für mich selbst.

Ich bin in einem mittelgroßen Dorf an der Schweizer Grenze aufgewachsen. Eine seinerseits gerade noch saubere und heile Welt. Aber leider auch mit dem Abgrund in Sichtweite. Dazu gleich Näheres mehr.

Meine Eltern waren – und sind es bis heute – sehr aktiv in der dörflichen, aber auch regionalen, Gesangsvereinskultur.

Wo man singt, da lass Dich nieder – böse Menschen haben keine Lieder.

Wie wahr! Und so wuchs ich von Geburt an in diesem Umfeld auf. Zweimal im Jahr waren alle auf den Beinen, den Höhepunkt des Vereinslebens zu feiern. Das Frühlings- und Adventskonzert des Singkreises Eggingen.

Ich war natürlich als 8-jähriger der wichtigste Mann des Abends – der Vorhangzieher! Die an sich ungemütliche Gemeindehalle hatte immerhin eine erhöhte Bühne von geschätzt gut 70 Quadratmetern, die per altmodischem, dunkelrotem Vorhang vom, mit allen möglichen bunten Strichen „verzierten“,  Sporthallenboden abgetrennt war. Aber nicht der Raum selbst, sondern die Menschen machen einen Raum schön und zur Wohlfühloase.

Dies gilt auch für die derzeitige Kapelle meiner Kirchengemeinde. Eine wirklich hässliche, primitive Baracke, die objektiv einzig von ein paar altmodischen Heiligenfiguren verschönt und dem Allerheiligsten im zentralen Tabernakel geheiligt wird. Aber wenn dann sonntags alle da sind, wächst der Raum über sich hinaus. Das ist mir lieber, als ein schwülstiger Kirchenraum, indem sich aber nur missgünstige und profilierungssüchtige Gestalten aufhalten.

Zurück zum Vorhangzieher Markus Brogle. Ich stand also hinter der Bühne, wartete, bis sich der Gastchor aufgestellt und sortiert hatte und mir der jeweilige Dirigent das unmissverständliche Zeichen gab, JETZT den Vorhang aufzuziehen. Was war ich stolz! So eine wichtige Aufgabe. Der ganze Erfolg des Abends lief an dieser einen Stelle – sozusagen zentral – zusammen.

Schnitt zum zweiten – parallel verlaufenden – Erzählstrang

Mein etwas älterer Bruder war bei uns zu Hause immer der Techniker. Er nahm alles auseinander und baute es wieder zusammen. Zur Ver- und Bewunderung aller sogar so, dass es hinterher wieder funktionierte. Er hatte eine kleine Musikanalage, an die er immer mehr Lautsprecher anschloss. Ich glaube, am Schluss waren es 14 Stück. Unter dem Bett, auf dem Schrank – überall. Ausgebaut hatte er sie aus alten Fernsehern, die zum Spermüllabtransport am Wegesrand der Dorfstraßen standen. Da war ich vielleicht 10 oder 11. Und er hatte von Anfang an einen guten Musikgeschmack. Er wusste früh von Dave Grusin und Lee Ritenour – Fusionjazzer der ganz besonderen Art. Hier ein Livekonzert, das diese Musikrichtung vielleicht am besten zusammenfasst (obwohl youtube, ist der Sound richtig gut – also gern über die heimische Anlage oder den besten greifbaren Kopfhörer anhören).

Und wie es so mit den kleineren Brüdern ist, imitieren sie gern den großen Bruder. Also jobbte ich bereits mit 14 illegal für 5 DM die Stunde auf Baustellen, um mir auch eine Anlage kaufen zu können. Zusammen mit dem Geld, was man so zur Firmung geschenkt bekommt, reichte es für den ersten anständigen Sound. Und dann ging es los. Ich hatte meine spätere berufliche Bestimmung unterbewusst gefunden. Phil Collins, Toto, Genesis und alle großen Größen, die aber seinerzeit noch verpönt waren, wurden für unglaubliche 30 DM als CD im Musikgeschäft der nächsten Kleinstadt gekauft. Die Verkäuferin kannte uns beide mit der Zeit ganz gut, und hat uns schon Sachen für den nächsten Besuch zur Seite gelegt.

Irgendwann lief dann 1989 im ZDF eine Sendung, in der einer Harfe spielte. Diese Person und seine Musik sollen in diesem Beitrag über allem schweben. Es überstrahlt für mich alles und war meine musikalische Erweckung – es packte mich gleichzeitig heiß und kalt. Ich weiß noch, wie ich gebannt vor dem Fernseher saß und wartete, bereits Stift und Zettel nervös herbeigeholt, um mir den Namen aufschreiben zu können. Das wurde im Fernsehen seinerzeit immer mal wieder eingeblendet, denn Bildschirmtext oder Mediatheken um nachzusehen, gab es damals noch nicht. Und da stand es:

Andreas Vollenweider

Sein musikalisches Schaffen prägte mich durch und durch – und das bis heute. Er ist für mich neben Bach der genialste Musiker. Es ist mir bewusst, dass das ein großes Wort ist. Am nächsten Tag lief ich nervös zu unserer geliebten CD-Händlerin – und tatsächlich, sie hatte eine CD von ihm da. Mein Glück war perfekt. Wie sich später für mich herausstellte, ist genau diese Platte so ziemlich sein schwächstes Werk – aber immer noch so hoch über allem, dass es offensichtlich gelangt hat, mich vollkommen fertig zu machen.

Damals gab es für die Musikhändler den Bielefelder Katalog. Das war die Informationsquelle der CD-Händlerin, was es so alles gibt. So kaufte ich nach und nach und nach und nach alles, was in diesem Katalog von ihm stand. Jedes mal 30 DM. Für einen Schüler viel Geld.

Gleich das Fazit vorweg: das erste nach ist seine Debutplatte und das gleichzeitig wichtigste Werk. Leider nur knapp 40 Minuten lang. Aber nach diesen 40 Minuten sind Sie ein anderer Mensch.

Zurück zum ersten Erzählstrang

Die ganzen Popsongs konnte ich irgendwann auswendig laut mitsingen (nicht verstehend, was die Lyrics eigentlich bedeuten) – und dies anscheinend nicht nur nervtötend, sondern zur Freude meiner Umgebung in einer offenbar hervorragenden, wenn auch imitierenden, stimmlichen Qualität. Mein Stimmbruch hatte mich beim Singen nie behindert, da ich immer darüber hinweg sang und nicht, wie viele Fachleute völlig falsch empfehlen, die Stimme in dieser Zeit parkte.

Mit 13 durfte ich endlich auch im Singkreis mitsingen und war recht bald dort die führende Stimme im Tenor. Dies bemerkten auch Chöre aus den Nachbargemeinden, und so wurde ich für alle möglichen Konzerte im Klettgau und Wutachtal als Retter in höchster Not herbeigerufen – später auch als Notfall- oder Ersatzdirigent, wenn dort der Chor in der musikalischen Sackgasse steckte. Das ist keine Selbstbeweihräucherung. Das habe ich nicht nötig. Aber man braucht das alles, um die ganze Geschichte einordnen zu können.

Gleichzeitig dachten meine Eltern, dass es für die Dorfgemeinschaft doch gut wäre, wenn einer aus der Familie auch im Musikverein mitspielen würde – die örtliche Blaskapelle. Man zwang mir die Klarinette auf. Ich hasste das Ding zu jeder Sekunde meines Lebens, fügte mich aber in mein Schicksal. Geübt habe ich so gut wie nie – es fiel mir glücklicherweise zu.

Und nun zum Punkt mit dem moralischen Abgrund der Dorfgemeinschaft. Irgendwann war dann ein Auftritt des Musikvereins angesetzt, und der Dirigent war mit dem musikalischen Ergebnis der Probenarbeit noch nicht zufrieden. So wurde eine Sonderprobe angesetzt.

Am Sonntagmorgen um 9:30 Uhr.

Und das Ende der 80er-Jahre in einer dörflichen Umgebung, in der der Kirchturm bis heute das einzige, aber mittlerweile eben nur noch geografische, Zentrum ist. Schon damals, mit zarten 13 Jahren, war dies ein für mich den Boden unter den Füssen wegziehender Vorgang. Man verstehe mich nicht falsch – ich bin nicht jeden Sonntag mit Begeisterung zur Kirche gegangen, in der ich im Schnitt auch noch alle 2 Wochen ministrierte. Es gibt aber auch mal Zeiten im Leben, in denen einem routinierte Äußerlichkeiten über eigene inhaltliche Leere hinweghelfen.

Dass das aber ein Bruch einer knapp 2000-jährigen Kulturgeschichte ist, habe ich sofort gespürt. Der ganze Musikverein war in der Probe – der ganze. Es gab darüber auch keine Diskussion. Die waren also offensichtlich schon fortschrittlicher als ich. Ich zittere jetzt noch an der Tastatur, wie ich das aufschreibe.

Ein paar Jahre später „durfte“ ich dieses verhasste Ding dann endlich an die Wand werfen und mich auf das Singen konzentrieren. Höchste musikalische Weihen – außerhalb eines Konservatoriums – gab und gibt es bis heute für einen Laiensänger bei den Protestanten. Dort steht die Kirchenmusik mindestens auf der Bedeutungsebene der Predigt, und es werden die Lieder nicht, wie bei den Katholiken, nur durchgesungen. So war der Weg zur Jugendkantorei und dann Erwachsenenkantorei in Waldshut unter Trude Klein quasi zwingend vorgezeichnet. In der Jugendkantorei waren wir zwei Jungs und zehn  Mädels. Einer war Bass, ich Tenor und die Mädels teilten sich Alt und Sopran auf. Und ja – das war eine perfekte Mischung. Stimmlich war das haargenau passend. Innerhalb von drei Wochen konnte ich schwerste Barockliteratur vom Blatt singen. Wenn Du der einzige Tenor bist, musst Du liefern. Da kann man sich nirgendwo anlehnen. Und dann kam da der musikalische Höhepunkt meines Lebens. Es wurde mit knapp 80 Leuten die Matthäuspassion von Bach aufgeführt. Die Qualität damals – das weiß ich erst heute – war auf tatsächlich höchstem Niveau. Das ist unwiederbringbar und in meinem Leben wahrscheinlich auch unwiederholbar. Ich hatte darüber andernorts schon geschrieben.

Irgendwann trennten sich die Wege zwischen mir und Trude Klein. Später sang ich noch bei Martin Gotthard Schneider in Freiburg, bei Rainer Marbach in Rheinfelden und, ach – überall.

Und bei mir zu Hause lief, wenn mir gerade nach nichts anderem war: Andreas Vollenweider. Er ist 14 Tage jünger als meine Mutter und, wenn auch mit langen Schaffenspausen, immer noch aktiv. Ich hatte die Gelegenheit, ihn 5 mal live zusehen. Der Höhepunkt war das Konzert seiner AIR-Tournee 2009 in Dogern. Dort bin ich mit meinem Bruder hingegangen und saß – das ist kein Witz – ohne Bühnenerhöhung 2 Meter von Vollenweider weg. 2 Stunden lang. Unfassbar.

Dieser Mann würde niemals einen falschen Ton spielen. Das kann er gar nicht. Er ist mit seiner Harfe verwachsen. Das werde ich niemals mehr vergessen. Und wer saß, 15 Jahre später, zufällig, neben uns? Trude Klein – die Kantorin von Waldshut. Darf jeder selbst nachdenken.

Vollenweider spielt Harfe. Aber nicht elfengleich ein paar schmückende Töne hinten links im Orchester. Nein mit Kraft und Intensität. Es ist kein Jazz – das ist mir in diesem Zusammenhang ein zu abwertender Begriff. Er hat ein ständiges Grundmetrum in Achteln. Das hören Sie bei jedem seiner Stücke. Es geht immer wie am Gummiband gezogen vorwärts. Nicht nervös – nein. Sondern mit Kraft.

Es ist Musik, die einen auf eine Reise mitnimmt. Auf eine Klangreise. Irgendwo anders hin.

Dahin, wo es schön ist.

Als netter Nebeneffekt sind all seine Aufnahmen auch klanglich von der allerhöchsten Qualität, was dazu führte, dass seine Platten auf Vorführungen in meiner Branche immer mal wieder gern zur Qualitätseinordnung von HiFi-Anlagen hergenommen werden. Ich tue das eher selten, da mir seine Musik zu wichtig ist, um sie abzunudeln.

Hier meine Schallplatten von ihm. Es gibt noch deutlich mehr – dies dann aber leider nur in digitaler Form.

In den 60ern aufgewachsen, hat er selbstredend auch einen ideologischen Überbau, der von tiefem Pazifismus und ökologischem Mainstream geprägt ist. Das hat mich früher eher gestört, denn das hat seine Musik gar nicht nötig. Sie steht für sich allein schon wie ein Fels.

Nach seinem Album AIR im Jahr 2009 wurde es dann auffallend still um ihn, und man musste sich größte Sorgen machen. Just zur Coronazeit wollte er dann endlich ein neues Album präsentieren, was die Maßnahmen dann aber vorerst verhinderten. Die Präsentation einer Platte von einem Künstler seines Kalibers (immerhin 15 Millionen verkaufte Tonträger) erfordert verschiedenste öffentliche Termine, die zu jener Zeit schlicht nicht möglich waren.

So neigte er sich seinen vielen Fans mit einer Reihe von 12 live@home-Konzerten zu, die alle bei youtube zu sehen sind. Ich verlinke hier das dritte dieser Konzerte. Gehen Sie zu Minute 12:53 und spielen Sie die restlichen 5 Minuten des Videos auf dem besten Equipment, das Sie zur Verfügung haben in der höchsten erträglichen Lautstärke ab. Diese 5 Minuten sind die Zusammenfassung und der Höhepunkt seines musikalischen Schaffens.

Was ist mit der Harfe los? Vollenweider hat ein paar technische Kniffe angewandt, die Töne der Harfe etwas zu modifizieren. Coole Sache das! Die Harfe generell hat bekanntermaßen einen heilsamen Ton. Schon die keltische aber auch andere Kulturen kennen die Harfe. Man zupft eine Seite, die dann nachschwingt und der Ton wird über einen Resonanzkörper tragend. Ich denke, es ist dieses Nachklingen im Zusammenhang mit dem Holzkorpus – was dieses geradezu Mystische ausmacht.

Und dieses zu bespielen und zu benutzen beherrscht Vollenweider, wie kein anderer. Viele haben es unternommen, ihn zu imitieren. Da gibt es auch tatsächlich nette Beispiele, wie Hilary Stagg, Deborah Henson-Conant, Rüdiger Oppermann oder Peter Sterling. Aber keiner, und sie sagen es demütig selbst, schafft auch nur einen Hauch der Annäherung an Vollenweiders Genialität.

Kommen wir zurück zur Überschrift und zur weiter oben schon angesprochenen Wirkung seiner Musik auf die meisten Menschen.

Sie holt den Zuhörer in Sekunden von da weg, wo er gerade ist. Das funktioniert immer und mit absoluter Zuverlässigkeit. Vielleicht ähnlich wie das den Katholiken bekannte Rosenkranzgebet. Es erweicht vielleicht gar nicht Gottes Herz, um die Bitte des Beters zu erfüllen. Aber es macht aus dem Beter einen anderen Menschen.

Daher schlage ich vor, wenn dort schon nicht der Rosenkranz gebetet wird, Vollenweider bei UN-Sitzungen oder anderen Staatsgesprächen künftig ins Vorprogramm zu nehmen. Ich verspreche – die Gespräche würden anders verlaufen.

Bilder: Markus Brogle

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