Sind wir libertär?

Können wir das mit unserem Gewissen vereinbaren?

von Markus Brogle

In den letzten Wochen ging eine „neue“ Vokabel viral: Libertär.

Was heißt das?

Der libertäre Ansatz lehnt den Staat in den allermeisten seiner momentanen Betätigungsfelder ab. Sein wohl bekanntester Vertreter, Dr. Markus Krall, geht soweit, dass er bis auf vier alle Bundesministerien abschaffen würde. In seinen Veröffentlichungen benennt er dabei nur noch die Ministerien für Finanzen, für auswärtige Beziehungen, für innere Sicherheit und für Verteidigung.

Ein interessanter Ansatz, den er natürlich auch publikumswirksam überall vertritt – sicher gut wissend, dass er sowieso nie umgesetzt wird.

Dabei macht Krall in seinem Gedankengebäude zwei gravierende Fehler oder anders formuliert hat er von der Wirtschaft einen Teil nicht verstanden und blendet einen anderen Fakt gekonnt aus.

Die Wertschöpfung und das selbstständige Handeln aller – wirklich aller – am Markt beteiligten.

Beginnen wir mit Letzterem – dem selbstständigen Denken und Handeln

Unbändige Unternehmernaturen, wie ein Dr. Krall, denen alles nicht schnell und konsequent genug gehen kann, lassen zu viele Bürger auf der Strecke zurück. Dass es Menschen gibt, die man zurücklassen muss, weil sie immer und überall nur bremsen, quärulantieren und hinter jedem Gebüsch ein Problem sehen – OK, geschenkt.

Aber es gibt auch die vielen, und das ist die übergroße Mehrheit, die – wie fleißige Bienen – perfekt ihrer Arbeit nachgehen, Überstunden ohne Ende anhäufen, absolut gewissenhaft sind, aber das Risiko einer Selbstständigkeit nicht gehen können oder wollen.

Sie sind nicht mit Erbschaften zu einem Zeitpunkt gesegnet, der ihnen den finanziellen Druck schon in jungen Jahren rausnimmt und ihnen völlige Freiheit im Denken und Handeln gibt. Neben dem wirtschaftlichen Erfolg sehen sie zudem vielleicht auch noch andere Dinge als wichtig an. Sei es die Familie und je nach Qualität des Jobs auch die Betonung der Gestaltung der Freizeit. Das hat niemand zu bewerten. Wir leben in einer Gesellschaft mit freier Berufswahl, Religionsfreiheit und mittlerweile auch der freien Wahl des Geschlechts.

Diese Leute können nachts nicht deswegen kaum einschlafen, weil sie den einen Trade um 2 Uhr nachts verpasst haben, in denen Ihr Aktiendepot vielleicht nochmal den entscheidenden Schub hätte bekommen können.

Nein sie kommen aus ganz anderen, viel trivialeren Gründen nicht mehr zur Ruhe: Geldmangel, Wohnungsmangel, Mangel an vernünftigen Gesprächspartnern und stützenden Freunden, da die spätestens seit Corona alle an die lebensferne links/grün/woke Wolke verloren gegangen sind. Seither haben sie vielleicht neue Freunde gefunden, aber die anderen Punkte haben sich nicht verbessert. Und nun droht auch noch ein Krieg, der die ganze Welt in Brand setzen könnte – wobei ich hierzu bemerken muss, dass es an dieser Front jüngst erstaunlich ruhiger geworden ist.

Und da sind dann auch genügend Bürger dabei, die hier und dort sich an staatliche Sozialprogramme anlehnen müssen. Sei es über eine Sozialwohnung, Lohnaufstockungsprogramme und was auch immer. Der völlig frei laufende Markt fängt diese Härten nicht ein. Nicht weil er es nicht könnte, sondern weil es ihn nicht interessiert. Sollen die halt schauen, wo sie bleiben. Die Thematik der Überversorgung von Flüchtlingen bei gleichzeitiger Unterversorgung der eigenen Bevölkerung ist in meiner Betrachtung bisher noch gar nicht eingepreist – falls es noch niemand bemerkt haben sollte.

So sind nahezu alle Arbeitnehmer heute so in ihrer absoluten Abhängigkeit gefangen, dass gar keine Zeit bleibt, in Ruhe und ausgewogen für sich selbst über einen Ausweg aus der Misere oder gar einen sozialen Aufstieg nachzudenken. Sicher könnten viele langgediente und zuverlässige Arbeitnehmer, die in ihrem Job die Besten sind, sich auch nach einem neuen, besser bezahlten Job umsehen.

Aber allein die Unsicherheit über zwei bis drei Monate hinweg vielleicht keine Einnahmen zu haben, sei es wegen Kündigungsübergangsfristen oder einer mal nicht bestandenen Probezeit, hält viele davon ab, tätig zu werden. Die gnadenlose Aushungerung über die viel zu niedrigen Löhne hat es dem normalen Arbeitnehmer in den letzten 2 Dekaden unmöglich gemacht, ein Polster für ein solches Vorhaben anzulegen.

Dann flutet man das Land noch mit ausländischen Facharbeitern. Gehen wir mal realitätsfern davon aus, dass diese alle in Lohn  und Brot stehen würden. Das ist dann nichts anderes als eine Armee im Lohndumpingkrieg.

Die Wertschöpfung

Die Wertschöpfung findet ausschließlich und nur auf der Ebene der oben besprochenen abhängig Beschäftigten statt. Wertschöpfung heißt nichts anderes, als dass man aus Scheiße Leberwurst macht. Man veredelt mit Know-How und Technik einen primitiven Grundstoff zu etwas Werthaltigem. Einfachstes und sofort verständliches Beispiel im industriellen Sektor ist der Sand der irgendwann ein Computerchip ist. Oder natürlich die Landwirtschaft.

Die Möglichkeit zur Wertschöpfung wurde an vielen Stellen durch die Wissenschaft und die Ingenieure überhaupt erstellt. Das sind aber trotzdem zunächst Kostenstellen. Erst durch das handwerkliche Tun des Arbeiters entsteht der höhere Wert – der Mehrwert – der mit der Mehrwertsteuer besteuert wird.

Natürlich brauche ich dann noch findige Vertriebs- und Marketingleute, die den Kunden für das Produkt finden und zur Kasse bitten. Auch wichtig, aber alles nachgelagert – zumindest in der Wertschöpfung.

Vertriebler mögen jetzt argumentieren, dass sie es sind, die die Wünsche des Marktes an den Hersteller tragen und dieser daraufhin erst das Produkt entwickelt und herstellt. Trotzdem ist es der Hersteller, der den Wert erschafft.

Zurück zu Dr. Markus Krall

Er erschafft gar nichts. Er handelt mit Aktien und spricht Empfehlungen aus, was man kaufen und was man abstoßen soll. Machen wir uns aber nichts vor. Aktiengeschäfte sind grundsätzlich immer Win-Win-Situationen. Das Unternehmen hat gut gewirtschaftet, die Kurs und/oder die Dividende steigt und der Anteilseigener profitiert davon. Sehr gut.

Aber nur bis hierhin. Win-Win-Situationen führen aber immer zu einem Dritten, der in die Röhre schaut. Der, der den Wert erschaffen hat, der Arbeiter am Fließband sieht nämlich davon gar nichts. Gäbe es die Gewerkschaften und die Betriebsräte nicht, würde er niemals eine Anpassung seiner Entlohnung erhalten. In einem völlig frei fliegenden Markt würde der Unternehmer im Gegenteil versuchen, den Gewinn auch mit Einsparungen am Beginn der Kette weiter zu steigern.

Das hatten wir alles zu Beginn der Industrialisierung gesehen. Dahin kann der denkende Mensch nicht zurück wollen. Ein Dr. Krall schon. Er sitzt einerseits eh schon an den Fleischtöpfen und geht andererseits davon aus, dass jeder so denkt wie er und mit der gleichen Eloquenz und dem gleichen Tatendrang ausgestattet ist – und folglich selbst schuld ist, wenn er bei all diesen sich bietenden Möglichkeiten nicht zu seinem Anteil kommt.

Fazit

Es ist gut, wenn es eine Institution gibt, die hier und dort für den Ausgleich der Interessen sorgt. Ob das der Staat sein muss – darüber kann man diskutieren. Wenn er es aber ist, kann er sich nicht nach Kralls Vorstellung überall zurückziehen.

So gesehen höre ich ihm zwar gern zu, man kann zumindest von seiner Eloquenz lernen, lehne aber eine Zusammenarbeit mit ihm und dem Libertären Ansatz ab.

Ob dies ein Grund für die Distanzierung Maaßens von Krall und Otte ist, der vielleicht nur nicht öffentlich kommuniziert wird?

Was heißt das für die AfD?

Machen wir uns nichts vor, die AfD ist mit ihren 20%, bei denen sie aktuell in Sonntagsfragen ungefähr liegt, klar unterrepräsentiert. Seit Merkel ist der rechteste Rand der CDU linker als der rechteste Rand der SPD früher. So gesehen ist der politische Raum von extrem rechts bis zur beginnenden Unvernunft ab kurz über der Mitte momentan nur von einer einzigen Partei besetzt.

Sich dann mit Leuten einzulassen, für die selbst die F.D.P. ein linker Verein ist halte ich daher nicht für zielführend. Wir brauchen keine weitere Stimme für Turbokapitalismus sondern müssen nah am Bürger bleiben. Das klappt ja ganz gut. Ich empfehle also den Konsum von unzähligen Statements der Ich-bin-der-schlaueste-Aktiendealer-YouTube-Kanälen wieder auf ein vernünftiges Maß herunterzufahren. Wer weiß, was die für eine Agenda im Hintergrund haben. Jedenfalls keine, die das gesamte Spektrum der Bevölkerung und der Wirtschaft im Auge hat.

Bild von Megan Rexazin Conde auf Pixabay

2 Antworten zu “Sind wir libertär?”

  1. Klasse geschrieben.
    Sollte man nicht auch einmal in Betracht ziehen, dass man auch Menschen ersetzende Maschinen /Roboter usw. in die Wertschöfer Steuerabgaben (Lohnsteuer , KK usw.) einfließen lässt? . Und ja Krall hat etwas kurz gesprungen etwas polarisiert, doch viele Ämter abzuschaffen, wäre zwingend angebracht. Ein gut durchdachter Versuch in eine andere Neue Richtung zu gehen / aufzubauen , warum nicht.?

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